Lokaler Routenführer Bingen am Rhein
Den Schatz an lebendigen Zeugnissen des produzierenden Gewerbes samt dazugehöriger Infrastruktur zu bergen, wieder ins Bewusstsein zu bringen und zugänglich zu machen, ist Ziel der Route der Industriekultur Rhein-Main. Sie führt zu wichtigen industriekulturellen Orten im gesamten Rhein-Main-Gebiet und befasst sich mit Themen wirtschaftlicher, sozialer, technischer, architektonischer und städtebaulicher Entwicklung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Stand 2006
Industriegeschichte in Bingen
Von jeher ist Bingen, die alte Stadt am Zusammenfluss von Nahe und Rhein und Eingangstor zum heutigen UNESCO-Welterbe „Oberes Mittelrheintal“, von seiner exponierten geographischen Lage geprägt: Die Stadt an den zwei Flüssen ist Verkehrsknotenpunkt, Weinstadt und Handelsort seit den Zeiten der Römer. Die weit reichende historische Dimension der Binger „Industriegeschichte“ verkörpern Denkmäler wie die 1000 Jahre alte Drususbrücke und der womöglich römische Draisbrunnen – beides herausragende „Ingenieurbauleistungen“ ihrer Zeit. Als eine zentrale Einrichtung für den frühen Handel ist der Alte Kran am Rheinufer erhalten. Gemeinsam mit den modernen Verladekränen im Industriehafen bildet er ein Jahrhunderte überspannendes Ensemble der Technikgeschichte. Verschifft wurde hiervorrangig der Binger Wein, dessen Produktion, Veredlung und Vermarktung für die Stadt noch immer von großer Bedeutung ist und typische Industriearchitektur hervor-gebracht hat (Weingüter, Keltern, Brennereien). Mit Entstehung der Rheinromantik im frühen 19. Jahr-hundert entwickelte Bingen sich zum Touristenort. Als Anlegestelle der Dampfschifffahrt auf dem Rhein seit 1828 und vor allem seit dem Anschluss an das rheinische Schienennetz im Jahre 1859 wurde Bingen zu einemwichtigen Scharnier des Fernverkehrs. Um 1900 konnten jährlich 500.000 mit Bahn, Schiff, ersten Autos oder Kutschen über und nach Bingen reisende Personen gezählt werden. Die Stadt profitierte damals auch von einem aktiven Handelsbürgertum vor Ort, dessen Reichtum in der Gründerzeit auch qualitätvollen architektonischen Niederschlag fand (z. B. Villa Katharina). Heute ist Bingen Standort bedeutender Logistik-Zentrendes Handels. Seit den 1970er Jahren verloren der Binger Eisenbahnknoten und der Industriehafen hingegen an Bedeutung; Einrichtungen der Infrastruktur wurden auf-gegeben und verfielen. Derzeit werden diese Flächen im Rahmen der Vorbereitungen für die Landesgartenschau Bingen 2008in neue Nutzungen überführt: Aus den Industriebrachen am Rheinufer werden auf einer Länge von 2,8 km u. a. eine „Gartenstadt“ und Naherholungsgebiete entstehen.

Pumpwerk Bingen-Gaulsheim
Pittoresk anmutendes Pumpwerksgebäude in rauhem Bossenquaderwerk (Inschrifttafel am straßenseitigen Portal: „Wasserwerk der Stadt Bingen 1906“). In Formen des Jugendstils gestalteter Bau mit geschwungenem kielbogenförmigem Dach und aufgesetztem Reiter; Verlust der ursprünglichen Maschinenausstattung lange vor der Renovierung. Rückwärtig Wohnhaus für den Maschinisten in stilistischer Anlehnung an das um 1984 grundlegend sanierte Pumpwerksgebäude.

Brückenkopf-Torso der Hindenburgbrücke
Leinpfad Bauliche Reste der 1913-15 erbauten, 1945 von deutschen Pionieren gesprengten Hindenburgbrücke inklusive Brückentürmen, Vorflutbögen und Sprengungstrümmern. Betonkonstruktion mit mächtigen dunklen Rustika-Quadern verkleidet. In derFlussaue zwei Bögen und der festungsartige Brücken-kopf mit Schießscharten und Wappen des Großherzogtums Hessen nahezu unbeschadet erhalten. Neben der Bahnlinie Bingen-Mainz runde „Bastion“ in hellerem Stein mit dunkler gefassten Schießscharten.

Richtberg-Siedlung
Arbeiterwohnanlage von 1922-24 der Holzgroßhand-lung, Säge- und Imprägnierwerke Gebrüder Himmelsbach nach Plänen des Karlsruher Architekten Prof. Caesar. Polygonale Wohnanlage mit fünf kreisförmig angeordneten Wohn- häusern und eingeschossigen Verbindungsbauten mit mittiger Anordnung eines zum Innenhof führenden Torbogens. Zweistöckige Häuser auf quadratischem Grundriss mit verschiefertem Obergeschoss und Walmdach, straßenseitiger Torbogen durch geschweiften Giebel und glockenturmartigen Aufsatz akzentuiert. Die Haupthäuser sind durch ihre Nebengebäude untereinander verbunden, durch weitere kleine Torbögen gelangt man in die umgebenden Kleingärten. Originelle Lösung einer ländlichen Siedlung mit geringem Platzaufwand. Beispiel für die Suche nach neuen Formen im Siedlungsbau der 20er Jahre, aber auch für den ländlichen Bau unter Berücksichtigung einer im Nebenerwerb betriebenen Landwirtschaft.

Kiesverladekran
Kiesverladekran der Firma Mohr im östlichen Hafenbereich (um 1960).

Verwaltungsgebäude Boehringer Backmittel
Gebäudekomplex in rotem Klinker nach Entwurf von Prof. Ernst Neufert von 1957/58 mit abgestufter, der Topographie des abfallenden Geländes entsprechender Dachgestaltung. Betonung der Horizontalen mittels durchlaufender Fensterbänder und horizontal gelagerter Drehfenster mit waagrechter Sprossenführung. Das durch Modernisierungsmaßnahmen nur teilweise veränderte Gebäude weist noch immer eine Vielzahl zeittypischer Gestaltungsmerkmale auf, so etwa im Eingangsbereich (weit vorkragende, fast schwebend wirkende Überdachung mit versenkten Flachlampen und Betonung der Transparenz durch großflächige Verglasung des Eingangs zwischen schlanken Säulen) und an den seitlichen Eingängen (Türgestaltung, Form und Material der Türgriffe).

Bahnhof Bingen-Stadt mit Reiterstellwerk
Empfangsgebäude mit überfangenem Hauptbau (um 1880) und Anbau von 1937 mit gleisüberspannendem Reiterstellwerk in zeitgemäßer Formensprache (abgerundeter Gebäudeabschluss, bullaugenförmige Sichtluken, weit überkragender Sonnenschutz, gleisseitig umlaufende Fensterbänder mit typischer Sprosseneinteilung).

Draisbrunnen
Der Brunnen, möglicherweise römischen Ursprungs, wurde 1158 erstmals erwähnt. Seine jetzige Gestalt erhielt er in der Zeit der französischen Herrschaft um 1800. Die schlichte Fassade im Stil des Empire ist geprägt von der bogenförmige Nische aus Sandstein mit dem Ausfluss. Links davon der Eingang zur Brunnenkammer mit den dahinter liegenden, z.T. begehbaren Stollen und Wasserreservoirs (mittelalterliche Wasserleitung).

Villa Fischer (Villa Kappes)
Im Auftrag von Kommerzienrat Fischer 1908 bis 1910 nach Plänen des Sakralbaumeisters Domenikus Böhm errichtete Unternehmervilla im neoklassizistischen Stil mit größtenteils erhaltener zeitgenössischer Einrichtung und stringent bis ins Detail gestaltetem Interieur. Ganz im Sinne der Idee eines Gesamtkunstwerks die Linienführung der Türen und Beschläge, noble Wandvertäfelungen in edlen Hölzern, kassetierte Decken, Glasmalereien im Treppenhaus u. v. a. m. Repräsentativer Portikus von 1910/11 vor terrassiertem Garten in Hanglage mit Portal und Brunnen. Bauhistorisch interessant: Das Gebäude zählt zu den ersten Bauten Bingens in qualitätvoller Betonbauweise.

Weinhändlervilla mit Kelterhaus Mainzer Straße
Das zweigeschossige Wohnhaus mit rückwärtigem Kelterhaus wurde 1899 von Regierungs-Baumeister Karl Moritz (Köln) und dem Architekten Busch für den Weingutsbesitzer Erne errichtet. Der repräsentative, an Barockformen orientierte Bau aus Heilbronner Sandstein weist an der Fassade zahlreiche dekorative Einzelheiten auf (z. B. schmiedeeiserne Balkongitter mit Vergoldungen). Das Anwesen istein hervorragendes Beispiel für die qualitätvolle Architektur des 19. Jahrhunderts an der außerhalb der Altstadt gelegenen Mainzer Straße, die nach Niederlegung der Stadtmauer seit etwa 1815 zur bevorzugten Wohngegend u. a. von reichen Weinproduzenten und -händlern wurde.

Villa Katharina
Für Kommerzienrat Heinrich Fischer am Anfang der damals noch unbebauten Rochusallee nach Entwürfen des Kreuznacher Architekten Hans Best 1903 in Mischformen des Historismus und des Jugendstils erbaute Unternehmervilla. Hoch aufragender, burgartiger Bruchsteinbau, der neugotische und neuromanische Stilelemente in großem Variantenreichtum miteinander verbindet. Opulentes Erscheinungsbild durch geschweifte Giebel, Risalite, Türmchen und Altane; Akzentuierung der Ecksituation durch hoch aufragenden Turm. Auf dem Relieffries an der Eingansseite sind Zwergen als Seemänner, Winzer und Bergleute abgebildet ein Verweis auf die wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder des Bauherren.

Rheinisches Technikum
Hoch aufragender, dreigeschossiger Backsteinbau von 1898 (ehemals Großherzogliche Ingenieurschule, heute Teil der Fachhochschule Bingen) über mächtigem Sockel aus Polygonalmauerwerk mit schräg gestellten Stützpfeilern und großen bogenförmigen Fenstern. Die Fassadengliederung ist durch den Wechsel von roten und gelben Ziegeln akzentuiert. Im Mittelrisalit drei breite, bis ins Dachgeschoss reichende Fensterachsen; darüber ein Walmdach mit über dem Mittelrisalit verändertem Dachaufbau moderner Prägung.

Burg Klopp
Die hoch über der Stadt gelegene Burg Klopp wurde ursprünglich wohl um die Mitte des 13. Jahrhunderts errichtet. 1689/1711 zerstört, wurde die Burgruine seit 1854 im rheinischen Burgenstil des 15. Jahrhunderts neu errichtet. Zwischen 1875 und 1879 ließ der Kölner Reeder Cron den Palas neu aufbauen und bezog die Burg als Wohnsitz. Das Phänomen der „Industriellenburg“ ist im Rheintal im späten 19. Jahrhundert häufiger anzutreffen (z. B. Burg Reichenstein im Besitz des Hütteneigentümers Puricelli) und sozialgeschichtlich von großem Interesse: Durch Rückgriff auf adlige bzw. „ritterliche“ Lebensformen diente es der Etablierung einer neuen gesellschaftlichen Elite.

Sektkellerei Scharlachberg
Voluminöser Gebäudekomplex in der Gaustraße mit markant gegliederter Fassade nach Entwurf der Architekten Hans und Christoph Rummel. Das 1927 in Anlehnung an Stilformen des Expressionismus entworfene, zweigeschossige Gebäude wird zu seiner Linken von einem markanten Turm – für die seinerzeit beliebte monumentale Leuchtreklame – flankiert, den ein dreigeschossiger Bau mit schiffsbugförmigem Erker beschließt. Einige den Eindruck des Bauwerks bestimmende zeittypische Details haben sich bis heute erhalten (z. B. die plastisch erhabenen Lettern des „Scharlachberg“-Schriftzuges über die gesamte Breite der Hauptfassade sowie die in Fischgrätmuster gestalteten Tore).

Drususbrücke
Siebenbogige Brückenkonstruktion mit markanten Eisbrechern an den Pfeilern und einer im ersten östlichen Brückenpfeiler integrierten frühromanischen Kapelle. Das unter dem Mainzer Erzbischof Willigis (975 – 1011) errichtete Bauwerk diente der Erschließung des damals noch siedlungsarmen Hunsrücks. Die Brücke gilt als älteste mittelalterliche Steinbrücke Deutschlands und hat seit dem Spätmittelalter zahlreiche kriegerische Zerstörungen erlitten. Nach Sprengung im März 1945 und Errichtung einer Behelfsbrücke wurde die Anlage bis 1952 in ursprünglicher Form wieder aufgebaut, jedoch mit verbreiterter Fahrbahn. Eine Generalsanierung erfolgte 2005.

Raab-Karcher-Kran
Laufkran auf Kranbahn der Firma Fries (um 1960) im westlichen Hafenbereich mit unter dem Auslegearm gestaffelt aufgehängter Führerkabine. Gemeinsam mit dem stationären Kiesverladekran der Firma Mohr im östlichen Teil des Hafens (Nr. 8 ebenfalls um 1960, Bingen-Kempten) bildet der Kran ein modernes Pendant in Stahlbauweise zu dem nur unweit entfernten, hölzernen „Alten Kranen“ aus dem 17. Jahrhundert – ein technikgeschichtlich interessantes Ensemble, das rund 300 Jahre „Krangeschichte“ verkörpert.

Alter Kran
Ein Kran am Binger Rheinufer ist erstmals 1438 genannt, doch dürfte es entsprechende Einrichtungen schon früher gegeben haben. Seit dem 16. Jahrhundert sind in Text und Bild sogar zwei Hebewerke am Binger Hafen bezeugt. Entsprechend ihrer Bedeutung für den Handel stellten sie eine wichtige Einnahmequelle für den Binger Landesherren, das Mainzer Domkapitel, dar: Zum Be- und Entladen aller Schiffe war die gebührenpflichtige Benutzung der Kräne vorgeschrieben. Ein Kranmeister und seine Knechte hatten die Ein-nahmen zu verwalten und den Kran funktionstüchtig zu halten (Kranmeisterordnung 1552). Da die Anlagen großem Verschleiß ausgesetzt waren und immer wieder nur notdürftig repariert wurden, rang man sich im 17. Jahrhundert zu dem noch heute erhaltenen Bau auf steinernem, quadratischem Fundament durch. Im Innern des Krans befinden sich zwei große Holzräder: je eines zum Anheben und Ablassen der Lasten. Männer mussten durch Laufen in den Rädern deren Antrieb bewirken. Mit einem großen, handbewegten Balken konnte dasKuppeldach samt Ausleger bewegt werden. Der Alte Kran, der bis zur Aufschüttung des Rheinufers um 1890 unmittelbar am Flussufer lag und solange auch in Betrieb war, ist im Jahre 2005 vollständig restauriert worden.

Historisches Museum am Strom – ehemaliges Elektrizitätswerk
Das unmittelbar am Rhein gelegene Bauwerk beherbergt seit 1998 das „Historische Museum am Strom – Hildegard von Bingen“ und wurde 1898 als „Elektrizitätswerk Bingen“ (Inschrifttafel) errichtet. Die ursprüngliche industrielle Nutzung ist im Innern des Gebäudes ablesbar geblieben (u. a. Lastenkran von 1917 erhalten). Dominierend sind der stark hervortretende, von einem steilen Zwerchdachgiebel bekrönte Mittelrisalit an der Frontseite sowie die beiden kleineren Zwerchhäuser mit stadt- und flussseitiger Ausrichtung. Das Polygonalmauerwerk aus Grauwacker für die Wandflächen und rotem Backstein für die gliedernden Architekturelemente zeigt deutlich historistische Züge. Die Fassade ist gegliedert durch hohe, spitzbogige Fenster, die an gotische Kirchenbauten erinnern und den Charakter des Gebäudes als „Kathedrale des Fortschritts“ prägen.

Tunnel unter dem Gleisfeld des Hauptbahnhofes (Bhf. Bingerbrück)
Der Tunnel, dessen Einstieg sich im Bahnhof am stadtauswärts gelegenen Ende der Bahnsteige befindet, führt zum Vorgelände des Rheinufers unweit des Mäuseturms. Das in verklinkertem Gewölbe ausgeführte Erdbauwerk (um 1900) von rund 200 Metern Länge verfügt über eine Vielzahl heute z. T. stillgelegter unterirdischer Abstellnischen und -kammern.

Alte Wagenausbesserungshalle im ehemaligen Hauptbahnhofsgelände (Bhf. Bingerbrück)
Wagenausbesserungshalle im ehemaligen Bahnverkehrsknoten Bingerbrück, heute weitgehend ruinös. Eine Wiederherrichtung und neue Nutzung im Zuge der Landesgartenschau Bingen 2008 ist geplant.

Gleisüberspannendes Reiterstellwerk im Hauptbahnhof (Bhf. Bingerbrück)
Das Reiterstellwerk von 1934 (Bauplan datiert) in Stahlbauweise überspannt das Gleisfeld des bis in die 1980er Jahre verkehrstechnisch bedeutenden Bahnbetriebswerks Bingerbrück. Das seit einigen Jahren stillgelegte Befehlsstellwerk in markanter Lage präsentiert sich wie sein Pendant im Bahnhof Bingen Stadt in zeittypischen Formen der 30er Jahre (beidseitig durchlaufende Fensterbänder mit rundum weit überkragenden Sonnenschutzblenden, frontseitig abgerundeten Gebäudeabschlüssen mit doppelseitigen Ausbuchtungen). In deutlichem Kontrast zu dieser stählernen „Stromlinienmoderne“ steht der in Bruchsteinbauweise errichtete, an einen wehrhaften Befestigungsturm erinnernde Kopfbau mit doppelläufiger Treppe und direktem Zugang zur brückenartigen Überbauung der Gleise.

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