Das Kriegsende hatte viele Gesichter

© Alexander Paul Englert

Symposium im Kulturforum Wiesbaden zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf

Anlässlich des 80. Jahrestages des Kriegsendes luden Stadtarchiv Wiesbaden und KulturRegion FrankfurtRheinMain gemeinsam mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und der Volkshochschule Wiesbaden zum Symposium „80 Jahre Kriegsende: Demokratischer Neubeginn in Rhein-Main“ in Wiesbadener Kulturforum. Referentinnen und Referenten aus der Region stellten ihre Erkenntnisse zum Kriegsende in Groß-, Mittel- und Kleinstädten des Rhein-Main-Gebietes vor. Kulturdezernent Dr. Hendrik Schmehl wies in seiner Begrüßung auf den Umgang der Wiesbadenerinnen und Wiesbadener mit der Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes hin. In Wiesbaden, wie in vielen anderen Kommunen im Rhein-Main-Gebiet waren die Oberbürgermeister schnell als die Haupttäter identifiziert. Wurden sie im Zuge der Entnazifizierungsverfahren in eine der niedrigeren Gruppen eingestuft, war der Unmut in der Bevölkerung durchaus groß über die Entscheidung der Spruchkammer. Dr. Schmehl stellte heraus, dass es doch von erstaunlichem Selbstbewusstsein zeuge, wenn der letzte NS-Bürgermeister Felix Piékarski nach der Flucht vor der US-Armee bei seiner Ankunft in der besetzten Stadt im Juni 1945 sofort im Rathaus vorsprach.
 
Den Tag eröffnete Dr. Peter Quadflieg mit einem Impulsvortrag zu den Vorgängen der letzten Kriegswochen in Wiesbaden. Anschließend beleuchtete Professor Frank Jacob das Kriegsende in Aschaffenburg. Weiter ging es mit dem Vortrag von Dr. Sandra Zimmermann, die auf die letzten Kriegstage und die erste Zeit der Besatzung in Darmstadt blickte. Komplettiert wurde das erste Panel durch die Schilderungen von Sylvia Goldhammer zum Kriegsende in Oberursel. Eines arbeiteten die Referenten schon jetzt heraus, was in den weiteren Panels bestätigt wurde. Die Erinnerungen an das Kriegsende konzentrieren sich sowohl in Aschaffenburg als auch in Darmstadt auf die Zerstörung der Städte. Kaum bis gar nicht werde die Gewalterfahrung im Krieg thematisiert. Dafür erinnere man sich gern an die Kameradschaft in der Truppe.
 
Der zweite thematische Schwerpunkt des Tages warf einen Blick auf den Aufbau staatlicher und demokratischer Strukturen. Gregor Maier stellte die Entwicklungen im Hochtaunuskreis vor. Er thematisierte unter anderem die Herausforderungen der Unterbringung und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in kleinen Kommunen und Dörfern. Dr. Thomas Bauer lud anschließend zur Betrachtung des Aufbaus staatlicher Strukturen in Frankfurt am Main. Als Sinnbild schilderte er die Diskussionen um den Wiederaufbau der Frankfurter Paulskirche. Wie Grgeor Maier warf auch Dr. Bauer einen Blick auf die ersten Wahlen und die Debatten im ersten Stadtparlament.
 
Den dritten thematischen Schwerpunkt leitete die Dezernentin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt, Dr. Ina Hartwig, ein. Sie rief dazu auf, dass Demokratie heute gar nicht hoch genug wertgeschätzt werden könne. „In Stadtparlamenten wird Demokratie gelebt“, sagt Dr. Hartwig und weist damit auf die Bedeutung von Kommunen als Säulen der demokratischen Gesellschaft hin. Anschließend fragte Dr. Bernd Blisch nach der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Flörsheim anhand des „Flörsheimer Kristallnachts-Prozesses“ 1949. An seinen Vortrag schloss sich eine rege Diskussion an. Insbesondere beeindruckt hatte die Einschätzung, dass die Entscheidung des Gerichts, den Prozess vor Ort durchzuführen zu den milden Urteilen geführt habe.
 
Das Programm schloss eine Podiumsdiskussion zu historischen Vermittlungsprojekten ab. Unter anderem stellte Lisa Sommer vom sam – Stadtmuseum am Markt die von Schülerinnen der Wiesbadener Martin-Niemöller-Schule erarbeitete Ausstellung zum Kriegsende in Wiesbaden vor. Thomas Altmeyer umriss die Genese des Geschichtsortes Adlerwerke in Frankfurt am Main und berichtete aus der Praxis bei der Konzeption des kommunenübergreifenden Projektes zu den Todesmärschen der Häftlinge des KZ Katzbach. Auch Dr. Markus Häfner, Hanau, und Margit Sachse, Darmstadt/Evreux, präsentierten großangelegte Projekte zum Kriegsende. Beide arbeiteten die Bedeutung von digitalen Möglichkeiten in der Vermittlungsarbeit heraus. Kulturdezernent Dr. Schmehl fasst den Tag zusammen: „Das Symposium hat gezeigt, dass die Ereignisse, die in den vorgestellten Kommunen zum Kriegsende erinnert werden, durchaus verschieden sind. Daraus lässt sich ableiten, dass es im Rhein-Main-Gebiet kein einheitliches Kriegsende gab. Gleichzeitig prägen Erlebnisse wie die Bombardierung der Städte das kollektive Gedächtnis. In allen Kommunen ließen sich personelle Kontinuitäten in den Verwaltungen nach 1945 feststellen. An einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der NS-Zeit bestand nirgendwo Interesse. Ebenso wenig wurde über Gewalterfahrungen an der Front oder in den Kriegsgefangenlagern der Alliierten gesprochen.“ Weiter sagt Dr. Schmehl: „80 Jahre Kriegsende muss Anlass für uns sein, uns kritisch mit der Geschichte auseinanderzusetzen und die Erzählungen der Groß- und Urgroßeltern zu dekonstruieren. Demokratie musste nach 1945 erkämpft und dann gefestigt werden. Eine Stunde Null gab es nicht.“