Lokaler Routenführer Ginsheim-Gustavsburg
Den Schatz an lebendigen Zeugnissen des produzierenden Gewerbes samt dazugehöriger Infrastruktur zu bergen, wieder ins Bewusstsein zu bringen und zugänglich zu machen, ist Ziel der Route der Industriekultur Rhein-Main. Sie führt zu wichtigen industriekulturellen Orten im gesamten Rhein-Main-Gebiet und befasst sich mit Themen wirtschaftlicher, sozialer, technischer, architektonischer und städtebaulicher Entwicklung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Stand: 2020

Industriegeschichte in Ginsheim-Gustavsburg
Die Stadt Ginsheim-Gustavsburg liegt im Nordwesten des Landkreises Groß-Gerau am Zusammenfluss von Rhein und Main (Mainspitze). Der Stadtsteil Ginsheim entwickelte sich durch seine idyllische Lage am Altrhein zu einem beliebten Wohn- und Naherholungsort. Die Entstehung des Stadtteils Gustavsburg ist eng mit dem Bau der Eisenbahnbrücke und der Ansiedlung des MAN-Werkes im 19. Jahrhundert verbunden. In Gustavsburg entstand schon früh eine gewerblichindustrielle Struktur. Verschiedene Fabrik- und Wohnbauten, Brücken und Anlagen zeugen von dieser Entwicklung und sind heute Teil der Industriekultur. Eine Auswahl der industriellen Baukunst im Stadtsteil Gustavsburg wird im Folgenden dargestellt.

MAN Gustavsburg
Das MAN-Werk in Gustavsburg zählt zu den bedeutendsten Industrieansiedlungen im Rhein-Main-Gebiet. Seine Gründung (und damit die Entstehung des Ortes Gustavsburg) geht zurück auf den Auftrag von 1860 an die Maschinenfabrik Klett & Co aus Nürnberg zum Bau einer Eisenbahnbrücke über den Rhein für die Ludwigsbahn von Darmstadt (und später auch von Frankfurt) nach Mainz. Aus dem ursprünglichen Montageplatz entwickelte sich eine florierende Filiale von Klett & Co zum Bau zahlreicher Eisenbahnbrücken im süddeutschen Raum, später in ganz Deutschland sowie in vielen europäischen Ländern und Übersee. Es folgte der Bau von Eisenbahnwaggons (Güter- und Personenwagen), Staustufen, Hochöfen, Fabrikbauten, Gasbehältern, der Wuppertaler Schwebebahn, Kraftwerken, Theaterbauten und vieles andere mehr. In Kriegszeiten wurden natürlich auch kriegswichtige Erzeugnisse hergestellt, wie Notbrücken, Lastwagen und U-Boot-Elemente. Heute werden im Werk Gustavsburg Chassis-Träger und Karosserieteile für Last- und Personenwagen im Kaltpressverfahren aus Grob- und Feinblechen produziert. 1898 schlossen sich die beiden konkurrierenden Maschinenfabriken in Augsburg und Nürnberg zur „Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg“ (M.A.N.) als Aktiengesellschaft zusammen. Die heutige Fabrikanlage ist nur auf einem Teil des ehemaligen Werksgeländes begrenzt. Nicht mehr benötigte Teile (Fabrikhallen, Verwaltungsbau, Hafen) wurden verkauft. Der Eisenbahnanschluss wird nur noch gelegentlich benutzt. Die vorhandenen, teilweise ursprünglichen Fabrikhallen sind weiterhin von einer beeindruckenden Architektur und Größe. Das Werk wird heute von der Hörmann Automotive Gustavsburg GmbH betrieben.

Gedenkstätte für ehemalige Zwangsarbeiter der MAN 1940 bis 1945
Mit einer Gedenkstätte, die im Jahr 2020 auf dem Platz in der Wilhelm-Leuschner-Straße in Gustavsburg errichtet wurde, erinnert die Stadt Ginsheim-Gustavsburg an das Lebensschicksal der Menschen, die aus ihren Heimatorten in Frankreich, Belgien, Polen, Russland, der Ukraine, den Niederlanden, Italien, Weißrussland, Litauen u.a. zwischen 1940 und 1945 nach Deutschland verschleppt und gezwungen wurden, bei der MAN, der Schiffswerft, der VDM und in der Landwirtschaft zu arbeiten und unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur zu leben.

MAN Gustavsburg - Rahmenteilefertigung
Das heutige Gebäude der Rahmenteilefertigung wurde ab 1900 in filigraner Stahlkonstruktion errichtet. Das Tonnendach besitzt im mittleren Teil ein Oberlichtband. Die Stahlstützen dienen auch als Auflager für die Kranbahn. Die reich verzierte und detaillierte Klinkerfassade wurde vorgestellt. Das ursprünglich noch längere Gebäude wurde nach Kriegszerstörungen auf das heutige Maß verkürzt.

MAN Gustavsburg - Grobblechfertigung
Die 3-schiffige gigantische Halle, das sogenannte Südwerk, stellt die erste Großraum-Werkstätte von MAN dar. Sie wurde von 1906 bis 1908 bei einer Breite von 75 m und einer Länge von 250 m als Stahlbogenkonstruktion mit Oberlichtbändern errichtet. Sie war ursprünglich für den Stahl-Hochbau bestimmt und mit Lauf- und Portalkränen ausgestattet. Heute werden hier mittels Umformpressen Chassis- und Karosserieteile für diverse Automobilwerke hergestellt.

MAN Gustavsburg - Längsträgerfertigung
Die ursprüngliche von 1970 stammende Stahlbauhalle ist verschiedentlich erweitert und umgenutzt worden. Heute weist sie eine Länge von ca. 250 m und eine Breite von 50 m auf und dient der Fertigung von Chassis-Trägern für LKWs. Sie beherbergt die beiden größten hydraulischen Biegepressen von MAN, mit einer Presskraft von jeweils 5.000 Tonnen und eine Oberflächenbeschichtungsanlage.

MAN Gustavsburg - Kranbahn / Montageplatz
Das Gelände der zweireihigen Kranbahn diente in der Vergangenheit der Großmontage von Brückenbauteilen und Hochbaukomponenten unter freiem Himmel. Heute wird es als Lagerplatz genutzt. Bemerkenswert sind unter anderen die Laufkrane für Traglasten von bis zu 30 Tonnen.

MAN Gustavsburg - Gerberträger
Die beiden Techniker Ludwig Werder und Heinrich Gerber waren bei der Firma Klett & Co verantwortlich für die Konzeption und Durchführung der Mainzer Südbrücke. Der von ihnen weiterentwickelte Fischbauchträger (Obergurt als starker Druckbalken, Untergurt als schmales Zugseil) trägt den Namen Gerberträger. Der original erhaltene Träger von 1861 war in der ursprünglichen Auffahrtsrampe verwendet worden und steht heute als Denkmal auf dem Werksgelände von MAN.

Ehemaliges MAN-Verwaltungsgebäude
Das „neue” Verwaltungsgebäude wurde 1900 außerhalb des Werksgeländes errichtet. Seine von Bürgerhäusern entlehnte Renaissance- Architektur entsprach dem Stolz der neuen MAN-Fabrikherren. Der Südflügel beherbergte hinter den hohen Fenstern die Zeichensäle. Der Nordflügel (mit niedrigeren Bürogeschossen) wurde ca. 10 Jahre später angebaut. Das repräsentative Gebäude wird heute als Technologie-, Innovations- und Gründerzentrum genutzt.

Gerber-Haus
Verwaltungsgebäude des Montageplatzes der Firma Klett von 1861 mit Büroräumen und Zeichensälen (”Brückenbaubüro”). Nach 1900 wurde hier die Werkschule eingerichtet. Ein zwei- bis dreigeschossiges Fachwerkgebäude mit einem späteren Wasserturmanbau im Renaissancestil. Heute gehört das Gebäude der Stadt.

Cramer-Klett Siedlung
Mit dem Bau dieser ersten ”Klett-Kolonie” (40 Häuser für ca. 100 Arbeiterfamilien) entstand ab 1897 zum ersten Mal ein richtiger Ort in Gustavsburg. Hier wohnten ausschließlich MAN-Mitarbeiter. Das ganzheitlich von dem Darmstädter Architekten Karl Hoffmann gestaltete Ensemble sollte kleinstädtische Idylle und heimische Geborgenheit ausstrahlen. Die Siedlung wird von der Robert-Koch-Strraße im Norden, der Nürnberger Straße im Osten, der Dr.-Kitz-Straße im Westen und der Darmstädter Landstraße im Süden umschlossen. Heute ist der größte Teil der Häuser im prvaten Besitz, einige wenige Häuser werden noch von der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Mainspitze vermietet.

Stahlhäuser
Nach dem 2. Weltkrieg entwickelte MAN ein Hausbausystem aus Stahl als mögliches neues, ziviles Produkt. Von diesem Bausystem sind zwischen 1948 und 1953 neun Musterhäuser innerhalb der Siedlung an der Robert-Koch-Straße errichtet worden. Sie sind bis heute bewohnt. Es handelt sich um eingeschossige Häuser mit drei Zimmern und flach geneigten Dächern. Die Tragstruktur sowie die Außenwandverkleidungen sind aus gepressten Stahlblechen.

Historische Rheinschiffsmühle Ginsheim
Über mehrere Jahrhunderte hinweg arbeiteten Schiffsmühlen im Rheinstrom vor Ginsheim. Bis zu 21 dieser schwimmenden Kleinbetriebe zur Getreideverarbeitung waren hier gleichzeitig verankert, bevor sie der aufkommenden Industrialisierung und dem wachsenden Schiffsverkehr weichen mussten. Heute bietet die authentische Rekonstruktion der letzten produktiven Rheinschiffsmühle interessante und spannende Einblicke in die Technik und die Arbeitsbedingungen vergangener Zeiten. Der Verein Historische Rheinschiffsmühle Ginsheim e.V. macht die Schiffsmühle ganzjährig zugänglich und informiert auf seiner Homepage über Geschichte, Technik und Aktuelles rund um die Rheinschiffsmühle.

Ginsheimer Kiesbagger
Der Kiesbagger von 1934 am Ginsheimer Altrhein ist Wahrzeichen einer von der Industrie dominierten Epoche, als der Fluss Lebensader für die Anrainer war. Als der mächtige Drehkran 1934 in Betrieb ging, trat er die Nachfolger eines Schiffsbaggers an. Baustoffe wie Kies und Sand holten die Ginsheimer damit von Bord der Rheinschiffe. Der Kiesbagger wurde in den Jahren 2002/03 restauriert.

Mainzer Südbrücke
Die 1860 - 1862 errichtete Eisenbahnbrücke ist der erste Brückenbau über den mittleren Rhein seit der Römerzeit. Auftraggeber war die Hessische Ludwigsbahn, ausgeführt wurde sie durch die Firma Klett & Co, Nürnberg und Gustavsburg. Die Auffahrtsrampe (Bild) mit 35 m weiten Brückenfeldern stellt eine sogenannten Flutbrücke dar. Ursprünglich war sie als „Gerberträger”, heute ist sie als Mischkonstruktion (Beton, Stahl) auf Sandsteinpfeilern ausgeführt. Die Hauptbrücke (vier Felder je 105 m) war ursprünglich als Bogenkonstruktion nach dem Paulinschen Trägersystem errichtet. Nach der Sprengung im 2. Weltkrieg wurde sie 1947 - 1949 als Stahlfachwerk-Kastenbrücke unter Verwendung des vorhandenen Kriegsbrückengeräts SKR von 1944 des MAN-Werks wiederaufgebaut.

Schiffswerft Gustavsburg
Die Werft wurde im Jahre 1886 vom Mainzer Schiffsbauer Franz Schmidt als Reparaturwerkstatt für Maschinen gegründet, die sich schnell auf das Reparieren von Schiffen spezialisierte. Bis 1909 wurden hier zuerst Holzschiffe und dann Kettenschlepper („Maakuh”) gebaut, ab 1913 Kran- und Tankschiffe, Schleppkähne, Eimerkettenbagger und Frachtschiffe. Zwischen 1939 und 1945 wurden hier verschiedene Kriegsfahrzeuge für die Marine hergestellt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Reparaturarbeiten für die Binnenflotte durchgeführt und allein bis 1958 über 50 neue Schiffe gebaut. 1989 meldete die „Werft Gustavsburg GmbH”, die inzwischen zur „Rhenus WTAG-Gruppe” gehörte, Konkurs an. Die Gebäude und Freiflächen wurden 1990 vom Mainzer Speditionsunternehmen Alex Kayser gekauft und werden heute als Lager und Werkstatt u. a. von der Firma Container Terminal Mainz (CTM) genutzt. Die Werft ist neben der Werft in Erlenbach die einzige Anlage dieser Art im Rhein-Main-Gebiet. Sie besteht aus einer schrägen Gleitbühne mit Turmdrehkran und mehreren festen Gebäuden aus rotem Klinker und mit Walmdächern. Die Bauten und der Kran zeigen eine für das Ende der 1920er Jahre typische Formensprache von beachtenswerter Qualität.

Hochheimer Eisenbahnbrücke
Die Brücke entstand 1904 im Zuge der Neuordnung des Eisenbahnnetzes rund um den überlasteten Mainzer Hauptbahnhof, zeitgleich mit der Kaiserbrücke über den Rhein. Sie ist eine äußerst markante, vierteilige Stahlbrücke mit einer Länge von ca. 200 m. Sie besteht aus zwei größeren und zwei kleineren Brückenbögen. Die Auflager und die skulptural ausgebildeten Brückenportale bestehen aus rotem Sandstein. Das schmiedeeiserne Geländer weist Anklänge an den Jugendstil auf. Diese Brücke ist aufgrund ihrer hohen Bögen zu einer Landmarke am unteren Main geworden.

Interaktive Karte der KulturRegion
Adressangaben und weitere Information zu den Orten
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